Am Mittwoch traf sich die Angehörigengruppe in Bad Oldesloe das erste Mal nach drei langen Monaten wieder.

In der „alten“ Normalität fanden unsere Treffen im Mehrgenerationenhaus Oase e.V. in einem gemütlichen, kleinen Raum mit liebevoll gedecktem Kaffeetisch statt.

Seit nun mehr 6 Jahren treffen wir uns regelmäßig am ersten Mittwoch im Monat für 2 Stunden und die Angehörigen, die einen Menschen mit Demenz begleiten, können sich austauschen.

Wir sind schon durch viele Höhen und Tiefen gemeinsam gegangen.

Wir haben schon öfter in unserer Gruppe darüber nachgedacht, den Raum zu wechseln, um andernorts mehr Platz zu haben, unter anderem, weil die Gruppe wächst und immer mehr meiner Teilnehmer*innen mit Rollator kommen. Bislang hatten wir uns regelmäßig dagegen entschieden, weil es immer so gemütlich ist, Frau E., die gute Seele der Oase immer alles so schön für uns vorbereitet und weil wir auch so ungerne mit der Tradition brechen wollten.

Dann kam Corona und wir konnten uns lange gar nicht treffen.

Mit den Hygienebestimmungen und den Abstandregeln müssen wir nun alle einen Umgang finden und nach neuen Lösungen suchen. In meiner Unsicherheit, wie die Teilnehmer*innen überhaupt die Idee finden würden, sich wieder in einer größeren Gruppe zu treffen, telefonierte ich im Vorwege alle ab. Immerhin gehören viele der Damen und Herren zu der „Risikogruppe“.

Von einigen hatte ich länger nichts gehört, mit anderen war ich immer mal wieder im Kontakt und wusste bereits, wie Corona die Familien betroffen hatte. Viele Teilnehmer*innen begleiten einen Menschen mit Demenz in der Häuslichkeit und waren in den letzten Monaten auf sich gestellt, da Tagespflege und ehrenamtliche Unterstützung weggefallen waren. Andere hatten einen erkrankten Angehörigen bereits in einer stationären Einrichtung untergebracht und hatten nach wochenlangen Kontaktsperren nun die Möglichkeit wieder kurze Besuche bei den Lieben zu machen.

Die erste Idee, wir treffen uns draußen, dass stieß meistenteils auf viel Begeisterung.

Aber es gab auch Unsicherheiten.

Dann war das Wetter aber leider zu unbeständig.

Seit kurzem habe ich einen Praxisraum im Gründel-Haus in der Sehmsdorfer Str. 67 in Bad Oldesloe. Ein wunderschöner, großer und luftiger, sonnendurchfluteter Raum.

Für Coaching und Therapiesitzungen richte ich alles her, mit Teppich, bequemen Stühlen, so richtig zum Wohlfühlen.

Nun war ich gezwungen, den Raum so zu gestalten, dass wir den Mindestabstand einhalten konnten. Mit dem Zollstock habe ich alles vermessen, die Stühle angeordnet.

Die Teilnehmer*innen waren natürlich angehalten mit Mund-Nasenbedeckung und in zeitlichem Abstand zu kommen. Am Eingang wurden die Hände desinfiziert, Kontaktbögen ausgefüllt und dann nach und nach der Raum betreten.

Ich bekam schlechte Laune.

Ich hatte mich so auf MEINE Leute und das erste Treffen gefreut und auf einmal hatte ich richtig schlechte Laune. Bevor ich als letzte hoch ging zu der Gruppe, hielt ich inne und fragte mich, was ist das gerade, wo ist die Freude hin?

Und ich bekam den Gedanken nicht zu fassen.

Also erst einmal akzeptieren, dass es gerade so ist. Dem Gefühl einen Moment Raum geben. Einen tiefen Atemzug nehmen und tun, was gerade zu tun ist. Ich betrat den Raum!

Ich begrüßte die Gruppe und alle erzählten, wie es in den letzten Wochen gelaufen ist. Es waren so viele Emotionen im Raum. Alle hatten einen mehr oder weniger guten Umgang mit „Corona“ und den Auswirkungen gefunden und die Zeit bis hierher überstanden.

Ich bin immer wieder tief berührt von der Kraft, der Bereitschaft sich der Situation hinzugeben und der Kreativität der pflegenden Angehörigen.

Besonders bewegt haben mich an diesem Vormittag zwei Personen und ihre Geschichte.

Zum einen eine ganz junge Dame, die sich liebevoll um die Mutter kümmert, die an einer sehr frühen Form der Alzheimer Demenz erkrankt ist und nun immer häufiger starke Aggressionen und eine große Unruhe zeigt. Diese junge Frau war in den letzten Wochen völlig auf sich gestellt, da die Tagespflege nicht stattfand und auch aktuell noch nicht wieder geöffnet hatte. Der Gedanke, die Mutter nun in dieser Situation in eine Gerontopsychiatrie einweisen zu lassen und sie dann über Wochen nicht besuchen zu können, hatte sie davon abgehalten, diesen Weg zu gehen. Am Ende ihrer Kräfte, hatte sie Kontakt zu einer anderen, älteren Dame in der Runde aufgenommen und gegenseitig hatten die beiden Frauen sich unterstützt.

Zum anderen ein älterer Herr.

Dessen Frau lebt bereits seit einigen Jahren in einer stationären Einrichtung. Die Ehefrau hat eine weit fortgeschrittene Demenz und kann kaum noch sprechen. Bei den regelmäßigen Besuchen vor Corona war zumindest immer erkenntlich, dass die Ehefrau sich über den Besuch freute und die Zuwendung genoss. Ohne Abschied war von jetzt auf gleich kein Zutritt mehr möglich. In der Zwischenzeit musste der Herr selbst ins Krankenhaus und wurde operiert. Mit Tränen in den Augen sagte er, dass er seine Frau bislang nicht besuchen konnte. Nun wäre es wieder erlaubt, mit Schutzkleidung, auf zwei Meter Entfernung,  mit einer Trennscheibe und er hätte so viel Angst, dass seine  Frau ihn nicht erkennt.

Auch die anderen erzählten ihre Geschichten. Wir tauschten uns aus. Das nächste Treffen soll in einem Garten stattfinden, dann sehen wir weiter.

Dem Grund für meine schlechte Laune ging ich dann am Abend auf den Grund.

Im virtuellen Raum mit meiner MBSR-Runde haben wir an diesem Abend das Thema „Unsicherheit“ in den Blick genommen. Und als ich auf meinem Kissen saß und darüber berichtete, wie es mir am Tag ergangen war, wurde mir noch einmal deutlich, was da am Vormittag passiert war.

Normalerweise gibt es in meinem und vielleicht auch in Ihrem Leben eine „Verhaltensrichtlinie“, an der ich mich und jeder sich ausrichten kann. Ich weiß beispielweise, was erlaubt und was verboten ist, ich kenne die Regeln und Gesetze. Ich weiß, welche Werte und Normmaßstäbe ich anlege, nach denen ich mich ausrichte und an denen ich mich messe. Ich bin grundsätzlich ein “regelkonformer“ Mensch und habe ein inneres Bedürfnis, zu einer Gruppe dazuzugehören.

Zurzeit weiß eigentlich keiner so genau was richtig und was falsch ist, was „angemessen“ ist. Es gelten zeitweise täglich neue Regeln und die sind von Bundesland zu Bundesland auch noch unterschiedlich. In meiner Rolle und in der Verantwortung für eine so vulnerable Gruppe empfinde ich eine große Unsicherheit.

In der Situation war eine starke Ambivalenz in mir. Zum einen wollte ich alles „richtig“, nach den „geltenden“ Regeln machen, vor allem um die Gruppe zu schützen und zum anderen wollte ich die alte Gewohnheit und die Nähe zurück. In mir formte sich der Satz:

Ich muss es richtig machen!

Und genau das ist der Satz, den ich heute auch in meiner Gruppe als unglaublich präsent wahrgenommen habe.

Ich muss es richtig machen! Ich muss mein Bestes geben! Ich darf meine(n) Angehörige(n) nicht gefährden! Ich bin verantwortlich!

Ich muss es richtig machen!

Wenn ich diesen Satz mal in mir wirken lasse, dann steigt Stress auf, dann fühle ich die Anspannung im Körper. Meine Schultern gehen nach oben, mein Kiefer spannt sich an. Mein Magen fühlt sich an wie im Schleudergang.

Was kann ich tun in einer solchen Situation, wenn die Verantwortung mich erdrückt?

Dann kann ich diesem Gefühl von Unsicherheit den Raum geben. Was wäre, wenn es einfach mal in Ordnung ist, das für einen Augenblick zu spüren? Da ist Unsicherheit, da ist die Last der Verantwortung. Wie fühlt sich das in meinem Körper an?

Akzeptieren, dass es gerade so ist.

Atmen!

Am Nachmittag hatte ich eine Frau am Telefon, die genau das schilderte. Sie erzählte mir ihre Geschichte und sagte: „Aber dann lenke ich mich lieber ab, da will ich gar nicht drüber nachdenken“. Ich fragte, was denn passieren würde, wenn sie sich mal nicht ablenken würde und das einfach mal für einen Moment da sein darf? Wenn das so wie es ist völlig in Ordnung wäre?

„Dann“, sagte sie, „kommt die Traurigkeit und dann kann ich nicht mehr aufhören zu weinen.“

Hilfreich ist es, jemanden an seiner Seite zu haben, der einen zurückholt, der einen hier hält, der den nötigen Sicherheitsabstand aufrechterhält, damit Sie die Gefühle fühlen können, die gefühlt werden wollen, ohne sich in ihnen zu verlieren.

Dabei unterstütze ich Sie gerne!

 

Dieser Beitrag als Podcast zum Anhören für Sie

von Silke Steinke

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